»Ein großes Be…

»Ein großes Beben geht durch die ganze Welt. In
immer neuen Stößen erschüttert es das Bestehende. Und wenn es auch vorübergehend zu verebben scheint, irgendwo und irgendwann hebt
sich der Boden abermals. Die Angst, der Zorn
und die Hoffnung der Bedrohten schaffen unaufhörlich Unruhe. Das ist ein andauerndes und
weit umfassenderes Phänomen als die bisherigen
Revolutionen. Ich nenne es ›Menschenbeben‹.«
Robert Jungk (1913 – 1994) (Quelle)

911: Göttinger Tageblatt vom 10. November 1938

„Schrei was du kannst“

Hannover, Mittwoch, den 9. November 1938, milde Temperaturen bestimmen die Wetterlage für die norddeutsche Tiefebene und es wurden 2,5 Sonnenstunden, mit Temperaturen von maximal 14° und Minimum von 8° Celsius registriert.

Meine Großeltern zogen an diesem Tag nach Göttingen und meine Mutter erwartete voll Neugierde die neue Stadt, die neue Schule und die neue, große Wohnung im Erdgeschoss am Niklausbergerweg. Aufgeregt und voller Erwartungen stieg meine Mutter, das Älteste von drei Kindern aus dem Zug, der von Hannover kommend in den Süden fuhr und in Göttingen anhielt. Hier, auf dieser Station arbeitet also ihr Vater; hier, in dieser Stadt suchten ihre Eltern ihr neues gemeinsames Glück, jenseits der dörflichen Idylle zwischen Iht und Leinetal. Für diese Stadt hatten die Eltern das Landleben, das Haus mit großem Garten, Kirschbäumen und der Oma in Parterre aufgegeben.

Mit der altehrwürdige Universitätsstadt verbanden meine Großeltern Hoffnungen und Sehnsüchte, für sich selbst und die drei Kinder. Den Dreien sollte es besser ergehen, als ihnen, die in den Wirren der Kriegsjahre des ersten Weltkrieges aufwuchsen. Die Schulen und das Theater der Stadt, die Universität versprachen ihnen dafür ein großzügiges und vielseitigeres Geistes- und Gesellschaftsleben. Eine unbeschwerte Kindheit war für sie vorgesehen und erdacht. Doch wie kurz ihr ersehntes Glück sein würde ahnte keiner. Kaum war die Sonne untergegangen erbrach sich das Übel brandschatzend durch die Gassen. Mit Schrecken und Entsetzen in den Gliedern kehrte mein Großvater vom Dienst Heim und berichtete aufgebracht und verzweifelt von der brennenden Stadt-Synagoge und den marodierenden Horden, die in den Straßen wüteten und die wenigen verbliebenen Juden der Stadt drangsalierten.

Bei meiner Mutter rückte an die Stelle der Vorfreude die nackte Angst vor dem Morgen, sie sollte nicht mehr weichen; und von nun an, die Jahre ihrer Kindheit bestimmen. Im neuen Klassenzimmer konnte sie die Lücken nicht schließen, die seit diesem Tag in die Stuhlreihen geschlagen wurden. Es fehlten die Ruth, die Rachel und wie sie noch hießen. Heute wissen wir, dass die Ereignisse dieser Nacht, die Vorboten des unheilvollen Ausgangs der Lebensgeschichte von aber Millionen und auch der meines Großvaters selbst sein würden. Das in Göttingen gesuchte und nicht gefundene gemeinsame Lebensglück meiner Großeltern endet je nach 4 Jahre, mit dem mysteriösen Tod meines Großvaters im Sommer 1942.

Er hatte seinen Glauben an das Leben und das Streben nach Glück, im Schatten der Gräueltaten während des Polenfeldzug, mit den Morden an der polnischen Zivilbevölkerung und den polnischen Juden, verloren. Und was bis dahin schon unfassbar genug war, wurde durch das Entsetzen übertroffen, dass ihn ergriff, nachdem er die Schreie der Geschundene, der in Viehwaggons eingepferchten, nicht mehr überhören und aus seinen Ohren verbannen konnte. Nächtens fuhren die Waggons der Reichsbahn des Todes durch den Göttinger Bahnhof, die verzweifelten Rufe der Deportierten offenbarten das Böse der Schreckensherrschaft, die seit 5 Jahren das Land regierten und das in dieser Nacht, als ein 911-, seinen Anfang nahm.  

Zu den Ereignissen in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag fand sich folgende kurze Meldung im Göttinger Tageblatt, vom 10.November 1938:

„Zu stark traf uns der Schlag des internationalen Judentums, als daß wir darauf mit Worten allein hätten reagieren können. Wir haben gesehen, daß der gelbe Tempel des rachsüchtigen Judengottes in der Oberen Maschstraße in Flammen aufgegangen ist und daß die Fensterscheiben einiger noch in jüdischen Händen befindlicher Geschäfte gestern Morgen nicht mehr vorhanden waren. Die Sicherheitsbehörden haben dafür gesorgt, daß es bei diesen Demonstrationen des Volkszorns blieb.“

Die Göttinger Synagoge Ecke Untere Masch (1895-1938)

Die Folgen der Pogrome für die Deutschen jüdischen Glaubens hat Wolfgang Benz in seinem Buch „Der Weg in den Holocaust (l): Die „Reichskristallnacht“ 1938 fest gehalten, (1988 C. H. Beck Verlag, München. ) *  der ganze Text (hier)

Ein weiteres Dokument aus Wien über die Zerstörung der Wiener Synagoge in der Leopoldstadt (Radioreportage)