Sind Souveränität und Loyalität zwei Antipoden, zwei Seiten einer Medaille? Was meinen wir mit staatlicher Souveränität? Jetzt mehr als ein halbes Jahr vor den Wahlen zum Europaparlament wird die Frage nach der europäischen und individuellen Selbstbestimmung im Zeichen von Big-Data, an den Folgen der US Spionage Aktivitäten kontrovers diskutiert (Enzensberger, Sloterdijk, Schirrmacher, Hofsetter u. Guérot). Der Begriff der Souveränität ist in aller Munde, die einen beschwören ihn als notwendig und die anderen halten ihn, im Angesicht von 7 Milliarden Menschen und der fortschreitenden Globalisierung, als ein Relikt aus alten Zeiten, der überholt ist. Die Katalanen fordern die Autonomie von der madrilenischen Zentralgewalt und bilden Menschenketten, um ihr Anliegen publik zu machen.
Souveränität umfasst in seinen Formenkreisen eine finanzielle, eine physische und eine psychische Dimension; wir kennen die staatliche und individuelle Autonomie bzw. Souveränität. Wir alle suchen Kontexte, um ein größtes Maß an Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Zuverlässigkeit zu erlangen, sei es als Teil einer definierten oder unbestimmten Gemeinschaft, als Staat, als Bürger, als Soldat und Zivilist, als Arbeiter und Angestellter, als Künstler und Individualist.
In diesem Sommer hat ein kleiner Mann, ein Bleichgesicht, ein Jüngling in viel zu großem Hemd, einen Stein ins Rollen gebracht, Ein Agent im Dienste seines Präsidenten enthüllt und macht bewusst, was wir wohl ahnen konnten, aber in ihrer Gewissheit nicht wissen wollten. Wir werden von der NSA der USA lückenlos ausgespäht. Was ihn antrieb sein Wissen der Welt mitzuteilen und in wessen Auftrag er das tat bleibt offen. Handelte er aus Idealismus oder folgt er einem perfiden Drehbuch? Die einen stilisieren ihn zum Helden der Freiheit und die anderen sehen die Abgründe seiner Illoyalität.
Unabhängig von der Frage der Motivation des Geheimnisverrates, offenbart die Ausspähung, ganz konkret den realexistierenden Grad unserer staatlichen und letztendlich auch individuellen Souveränität. Die Selbstbestimmung ist dahin. Fakt ist: Die staatlichen Instanzen der Bundesrepublik Deutschland sind nicht in der Lage oder gewillt die Privatsphäre ihrer Bürger zu garantieren, damit versagt unser Staatswesen auf einer ganz entscheidenden Ebene unserer Zusammenlebens. Erschreckt, wie vom Anblick der Medusa, blicken wir heute auf die Geheimdienste der USA und des Vereinigten Königreichs. Doch lassen wir uns nicht täuschen, „my house is my castle“ ist auch für die anderen Dienste an der Moskwa, der Seine oder im Delta des Gelben Flusses keine unüberwindliche Wagenburg. Sie alle linsen allzu gerne durch Schlüssellöcher in unsere warmen Wohnstuben. Sie wollen nicht wissen was wir meinen, sondern was wir planen und am liebsten ist ihnen, wenn sie das wissen, noch bevor wir es selbst wissen. Nennen wir es die hohe Kunst der Spionage.
Nun wissen wir, dass unsere Regierung, unser Staat in Gänze nicht im Stande ist unsere Privatsphäre zu schützen. Wohl verfügt er über unsere biometrischen Daten, aber für das Maß an Sekurität zahlen wir einen hohen Preis. Das Bürgerrecht auf Privatsphäre ist perdu. Gut, noch verhungern nicht Massen zwischen Oder und Maas, zwischen Flensburg und München. Solange wir keinen Versorgungsmangel leiden, die Regale und Etalagen angefüllt sind, und jeder gesellschaftliche Kreis ungebremst in seinem Konsumtempeln konsumieren darf, scheint der Verlust an Privatsphäre nicht allzu schwer zu wiegen. Scheinbar widerstandslos akzeptieren die Massen die Aushöhlung des Rechtes auf Privatsphäre. In welchem Status der Empörung wir leben ist unklar. Und der Satz von Albert Camus gilt:
„Je me revolte, donc nous sommes“ (Ich protestiere, also sind wir bzw. ich empöre mich, also sind wir).
Und Fakt ist auch, bei aller Fatalität des Unabwendbaren, wenn wir kommunizieren, dann denken wir nach, wie, wo und mit wem wir was austauschen. Wir denken, ob wir mit Klarnamen kommunizieren oder unsere Identität verschleiern. Wir denken nach, wo wir uns mit wem treffen, mit welcher Technik wir oder gänzlich technikfrei Gespräche führen. Wir bauen neue Schattenräume, um uns unbeobachtet zu besprechen. Ohne die innere Autonomie, ohne Privatsphäre, ohne die Unverletzlichkeit des allerletzten Refugiums fehlt uns was ganz Essentielles, für unser Menschsein, quasi die Wäsche am Leib, das Schuhwerk am Fuß.
Es heißt, absolute Transparenz ersetzt die Privatsphäre. Glasnost wird zum alles bestimmenden Diktum unseres Zusammenlebens. Wir stehen also im gleißenden Licht, einem Licht das keine Schatten wirft. Big-Data weiß alles und wir wissen nichts. Wir verlieren die Kontrolle, denn was Big-Data weiß wissen wir nicht. Und können wir uns dagegen wehren? Ein Blick in die Rechtslage des Nachkriegsdeutschlands zeigt die Geheimdienste u.a. der USA und des Vereinigten Königreichs dürfen das.
[…] Warum die Regierung in Sachen NSA so still ist Neben dem Grundgesetz existiert offenbar noch ein Schattengrundgesetz: das Truppenstatut und seine Zusatzabkommen. Wer wissen will, warum Kanzleramtsminister Ronald Pofalla die Lösung des Überwachungs-Problems lieber dem US-Geheimdienst NSA überlässt, muss ein wenig Geschichte pauken: Nach dem Ende der Hitler-Diktatur und der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs war Deutschland nicht mehr souverän. Zwar galt seit Mai 1949 das Grundgesetz, aber parallel dazu beschränkte ein alliiertes Vorbehaltsrecht eventuelle Eigenmächtigkeiten der Bundesrepublik Deutschland. Dieses alliierte Vorbehaltsrecht galt vom Inkrafttreten des Besatzungsstatuts 1949 bis zum Inkrafttreten des Zwei-Plus-Vier-Vertrags im März 1991. Mit dem Besatzungsstatut wurden die Militärregierungen in den drei Westzonen durch zivile Verwaltungen ersetzt. An ihrer Spitze stand jeweils ein Hoher Kommissar. Die Hohen Kommissare stellten die oberste Gewalt dar und übten die Kontrolle über die deutsche Bundesregierung und die Länderregierungen aus. Quelle: carta […]
Heute stehen keine von Tyrannen beauftragten Denunzianten in den Häuserfluren, heute sind wir dem Geist der Technik ausgeliefert, der Logik von Algorithmen, die Profile erstellen und Zeugnis ablegen über unsern Lebenswandel.
Die Privatsphäre ist zu einer Chimäre verkommen, ist ein Relikt aus romantischen Tagen des Vormärz und Denunzianten braucht es ja nun auch nicht mehr, sie wird Dank der technischen Möglichkeiten ad absurdum geführt. Technik und Strategie ist alles. Sie ist überflüssig im Zeichen von Glasnost. Wieso auch, denn „wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.“ Die NSA ist heute die neue dörfliche Sozialkontrolle, der allwissende Pastor.
“ (..) wir in Deutschland sind seit dem 8. Mai 1945 zu keinem Zeitpunkt mehr souverän! (..)“
Mit diesem Satz hat der deutsche Schatzkanzler Ende November 2011 auf dem „European Banking Congress“ in der Alten Oper in Frankfurt am Main mit dem Mythos unsere staatliche Souveränität aufgeräumt (Video). Schon in diesem Vortrag entwirft er eine Perspektive, wie die staatliche Souveränität im europäischen Kontext, mit einer selbstbewussten europäischen Union gestärkt werden kann. Auf dem Weg dahin wird sich Europa noch so mancher Blöße bewusst werden müssen, so z.B. der, dass sich das Vereinigte Königreich entscheiden muss zwischen Europa oder seinen Allianzen mit seinen ehemaligen Überseegebieten. Und Égalité nicht Gleichmacherei sein kann; Freiheit nicht die von Unternehmen und Systemen – und Fraternité die Solidarität mit den Schwachen meint.
Die Offenbarung des kleinen Agenten können der Diskussion, um die Perspektiven europäischer Souveränität einen neuen Spinn geben und der Anstoß für das politische Establishment Europas sein, auf die Machtansprüche der USA mit einer koordinierten Parade – im Dienste der Freiheit ihrer Bürger, zu antworten.
Abschließend sei die Frage erlaubt: Wie lange wir Deutschen uns noch unser transatlantischen, politisches Denken vom Joch der beiden Weltkriege bestimmen lassen wollen? Denn wir sind nicht des Diktators Erben, wir sind die Erben der Überlebenden, der Humanisten, der Freiheitsliebenden, die aus den Trümmern des Militarismus und Faschismus neue Wohnstätten und Lebensräume in Europa schufen, weil sie den Traum von einer humaneren Welt träumten.